Skandalöses Fortwirken des faschistischen Arbeitsunrechtes?
H. N.
Ein zentrales Thema auf der 10. Bundeskonferenz „Betriebsräte im Visier“ am 14. Oktober 2023 im Mannheimer Gewerkschaftshaus war die „Verdachtskündigung“ von Betriebsräten. Der Vortrag des Rechtsanwalts Klaus Dieter Freund zu dieser Problematik erregte bei den Anwesenden sehr großes Aufsehen. Im Folgenden wollen wir wesentliche Punkte seiner Ausführungen wiedergeben.
Zunächst skizzierte Kollege Freund die Geschichte der Verdachtskündigungen. Das Reichsarbeitsgericht (RAG) in der Weimarer Republik hatte sie in seinen Urteilen vom 14. November 1931 und vom 10. August 1932 für unwirksam erklärt.
Verdachtskündigungen im Faschismus …
Nach der Errichtung der faschistischen Diktatur 1933 nahmen die Herrschenden jedoch eine radikale Änderung des Arbeitsrechts vor. Das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ wurde am 20. Januar 1934 von der Nazi-Führung erlassen. Wesentlichen Anteil an seiner Erarbeitung hatten die Juristen Hans Carl Nipperdey, Alfred Hueck und Rolf Dietz.
Reichsarbeitsgerichtsurteile aus den Jahren 1934 und 1939 hielten danach Verdachtskündigungen für zulässig. Hueck kommentierte diese „Rechtsprechung“ in zeitgenössischen Veröffentlichungen zustimmend.
… und in der Bundesrepublik
In der Bundesrepublik Deutschland (BRD) wurde diese Linie umstandslos durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) unter maßgeblicher Beteiligung seines 1. Präsidenten Nipperdey fortgesetzt.
Bis heute hält das BAG an dieser unseligen Tradition nicht nur fest, sondern es hat sogar seine Rechtsprechung durch die Möglichkeit einer grundlosen fristlosen Verdachtskündigung verschärft.
Voraussetzungen der Verdachtskündigung von Betriebsräten sind:
- die Zustimmung durch den Betriebsrat oder deren Ersetzung durch das Arbeitsgericht gemäß § 103 Betriebsverfassungsgesetz
- die Anhörung des Betroffenen
- die Anhörung des Betriebsrates
- überwiegende auf Tatsachen basierende Verdachtsmomente
- die Nichtanwendbarkeit des Grundsatzes „im Zweifel für den Angeklagten“, da eine Kündigung keine Strafe sei.
Verstoß gegen das Grundgesetz
Nach Auffassung von Juristen stellt die Verdachtskündigung einen Verstoß gegen das Grundgesetz (GG) dar – konkret gegen Artikel 12 Abs. 1 (Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes) und Artikel 20 Abs. 3 (Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht).
Zudem ist hier § 9 Abs. 1 Satz 2 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) von Bedeutung. Demzufolge kann ein Gericht auf Antrag des „Arbeitgebers“ die Auflösung eines Arbeitsverhältnisses entscheiden, „wenn Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen“.
Hierzu gibt es die – von der Rechtsprechung allerdings bisher nicht berücksichtigte – juristische Auffassung, dass diese Formulierung eine abschließende Regelung darstellt und daher die direkte Verdachtskündigung unzulässig ist.
Klaus Dieter Freund vertrat in diesem Zusammenhang die Meinung, dass Gewerkschaften neben dem gesetzlichen Verbot der Verdachtskündigung auch für die Abschaffung eben dieses § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG eintreten sollten. Dort werden nämlich, so seine Argumentation, dem Unternehmer bei Feststellung der Unwirksamkeit einer Kündigung noch sehr viel weiterreichende Möglichkeiten zur Auflösung eines Arbeitsverhältnisses als nur in Verdachtsfällen geboten.
Die Karriere des Nipperdey
Freund beleuchtete in seinen Ausführungen noch näher die Rolle von Hans Carl Nipperdey. Dieser war von 1925 bis 1963 Professor an der Universität Köln. Nachdem er im Faschismus wesentlich an der Entwicklung des damaligen Arbeitsunrechts beteiligt war, gelang ihm in der BRD die Fortsetzung seiner Karriere.
Nach dem Krieg war er zunächst SPD-Mitglied im Kölner Stadtrat. Zudem war er juristischer Berater des DGB-Vorsitzenden Hans Böckler bei den Verhandlungen zum Kündigungsschutzgesetz 1951, auf das er zusammen mit Wilhelm Herschel maßgeblichen Einfluss genommen hat.
1954 wurde er erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts. Er prägte bis 1963 dessen Rechtsprechung wesentlich auf der Grundlage seiner im Faschismus entwickelten „Rechtsauffassungen“. Dabei wurde er unterstützt von zahlreichen Juristen mit brauner Vergangenheit, insbesondere durch die bereits erwähnten Alfred Hueck und Rolf Dietz sowie durch Arthur Nikisch und Wilhelm Herschel.
Massive Einschränkung des Streikrechts
Nipperdey und seine Unterstützer haben durch ihre „Rechtsprechung“ und ihr juristisches Wirken in der BRD nicht nur zum Erhalt der Verdachtskündigungen wesentlich beigetragen, sondern auch zur massiven Einschränkung des Streikrechts und der Rechte von Gewerkschaften und abhängig Beschäftigten.
Als zentrales Argument gegen die Verdachtskündigung nannte Freund, dass sie ausschließlich durch das Beendigungsinteresse des „Arbeitgebers“ ohne tatsächliche Rechtsgrundlage begründet werden kann. Insbesondere bei Verdachtskündigungen von Betriebsräten könnten Unternehmer mit Unterstützung von arbeitsrechtlichen Großkanzleien politisch motiviert aktive Betriebsräte aus dem Betrieb vertreiben.
Abschaffung der Verdachtskündigung erforderlich
Nach Freunds Auffassung sollten Gewerkschaften unbedingt eine Strategie für die Abschaffung der rechts- und verfassungswidrigen Verdachtskündigung sowie für die Streichung des § 9 Abs. 1 Satz 2 Kündigungsschutzgesetz entwickeln.
Zudem sei die Übertragung des Grundsatzes „im Zweifel für den Angeklagten“ auf das Arbeitsrecht unter Bezugnahme auf Artikel 6 Abs. 2 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention erforderlich. Dort heißt es: „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“
Es ist höchste Zeit, das skandalöse Fortwirken des faschistischen Arbeitsunrechts in Deutschland zu beenden.